Emir, ihr habt in Kienbaum und Heidelberg jeweils 120 Spieler gesichtet. Wie schafft man es, sich über so viele Spieler ein Bild zu machen – und tatsächlich die besten zu „erwischen“?
Dadurch, dass wir die Sichtung in vier Gruppen durchführen, können wir uns über die zweieinhalb Tage jeweils intensiv mit fünf Landesverbänden beschäftigen. In diesem Zeitraum – vom ersten Tag in Kienbaum bis zum letzten Tag in Heidelberg – sind die Eindrücke frisch und wir haben die Talente sehr präsent in unserem Kopf, weil wir in diesen drei Wochen kaum andere Themen haben.
Ich habe meine Eindrücke auch an jedem Tag direkt verschriftlicht. Carsten Klavehn hat für uns ein System ausgearbeitet, wo alle DHB-Trainer ihre Notizen platzieren und Auffälligkeiten dokumentieren können, was sie gesehen haben. So sind wir in der Lage, einen guten Überblick über die Jungs zu gewinnen.
Worauf guckst du besonders, wenn du die Spieler während der Sichtungen siehst?
Ich gucke mir jeden Spieler erst einmal für sich an und achte darauf, was auffällt; auf besonders ausgeprägte Merkmale oder Qualitäten. Es spielen viele Faktoren eine Rolle, wie die Körperlichkeit, die Position und die aktuellen Fähigkeiten. Und ich versuche ebenso wie alle anderen, einen kleinen Blick in die Glaskugel zu werfen – und mit aufgrund meiner Erfahrung vorzustellen, wie weit der Spieler am Ende seiner Ausbildung sein und welche technisch-taktischen Charakteristika er sich erarbeiten könnte. Und dann frage ich mich, wofür das im größeren Bild reichen könnte. Wo sehe ich diesen Spieler in drei, vier, fünf Jahren?
Eine Garantie, das habt ihr immer wieder betont, gibt es jedoch nie …
Das stimmt, weil so viele Punkte für die Entwicklung eine Rolle spielen. Verletzungen sind beispielsweise eine Sache, und auch die Eigenmotivation und die Arbeitsethik der Jungen. Das ist aber in der Sichtung erst einmal zweitrangig, weil ich davon ausgehe, dass diese Jungs, die sich dort vorstellen, hochengagiert sind. Sie haben alle eine Vision, ein Ziel für sich. Ich versuche daher, mich in erster Linie auf den sportlichen Aspekt zu konzentrieren und will die besonderen Merkmale identifizieren, die sie zu dem frühen Zeitpunkt schon mitbringen.
Magst du einen kleinen Einblick geben: Wie läuft die Sichtung im Trainerteam des Deutschen Handballbundes ab?
Wir sind in einem kontinuierlichen Austausch und vergleichen Auffälligkeiten. Wir wollen von unseren Kollegen wissen, ob sie etwas genauso sehen oder doch anders. Wir versuchen, die unterschiedlichen Gefühlslagen argumentativ zu erarbeiten: Warum hat man dieses Gefühl bei dem Spieler und der andere sieht etwas ganz anderes? Wir sammeln auch Informationen von den Landestrainern, die vor Ort sind, denn sie arbeiten jede Woche mit den Athleten. Am Ende sind wir oft erstaunlich dicht beieinander.
Ich könnte mir vorstellen, dass man oft die Spieler an der Spitze klar hat und ebenso die Spieler nennen kann, die am Ende stehen. Bei 240 Talenten pro Jahrgang bleibt jedoch ein großes Mittelfeld. Wie gelingt es, aus dieser Masse die richtigen Talente auszuwählen?
Das ist wirklich eine schwierige Aufgabe, aber der Deutsche Handballbund hat einfach ein gutes System entwickelt hat. Natürlich gibt es hin und wieder Talente, die sich erst später entwickeln und uns zum Zeitpunkt der Sichtung noch nicht auffallen, aber das lässt sich nicht verhindern.
Wir verschaffen uns bei den Sichtungen erst einmal einen guten Überblick und treffen eine erste Auswahl, aber damit sind wir ja nicht fertig. Alle anderen Spieler haben auch nach der Sichtung die Gelegenheit, sich zu präsentieren und sich eine Einladung zur Nationalmannschaft zu verdienen.
Warum ist das so wichtig?
In diesem Alter können die Spieler in einem Monat einen riesigen Schritt nach vorne machen. Ihre Entwicklung geht teilweise sprunghaft nach oben, Defizite können innerhalb kürzester Zeit behoben werden. Bei den Landesverbandsturnieren, den Deutschen Meisterschaften und dem Deutschland-Cup machen wir uns von den Spielern genauso ein Bild wie von den Talenten bei den ersten Maßnahmen der neuformierten Auswahl.
Es ist einfach noch viel in Bewegung, weil Jungs von Verletzungen gestoppt werden oder sich anders entwickeln als gedacht. Deshalb ist es so wichtig, dass wir viel in den Hallen unterwegs sind und unser Stützpunktsystem haben, um weiter eine große Anzahl an Spielern im Blick zu behalten und ihre tatsächliche Entwicklung zu bewerten. 2023 hatten wir 170 Jungs in verschiedenen Jahrgängen in den Stützpunkten und konnten regelmäßig mit ihnen arbeiten. Für die Größe unseres Landes und die Anzahl der Athleten ist das ein wirklich gutes System.
Die Sichtung in Kienbaum und Heidelberg ist der erste Schritt im Deutschen Handballbund, in zwei Jahren kommen die Spieler – wenn es gut läuft – in der U18-Nationalmannschaft an. Du trainierst diese Altersklasse aktuell. Was ist – abgesehen vom normalen körperlichen Wachstum – der größte Entwicklungsschritt in diesen zwei Jahren von der U16 zur U18?
Das Alter ist eine sensible Phase, denn diese zwei Jahre sind eine Menge Trainingszeit und dort passiert viel. Wenn die Jungs bereit sind, diese Zeit zu investieren – und davon gehe ich aus -, dann haben sie viele Gelegenheiten, sich zu verbessern. Das Verständnis vom Spiel wächst in dieser Zeit, sie entwickeln taktisch eine ganz andere Wahrnehmung. Das meine ich gar nicht in erster Linie bezogen auf die Mannschaftstaktik, sondern vor allem in der Individualtaktik. Sie spielen nicht nur, sondern lernen, warum sie was auf dem Spielfeld machen. Die Erfahrungswerte, die sie in zwei Jahren sammeln, spielen auch eine große Rolle, die Erfolge und Misserfolge, die gelungenen und nicht gelungenen Aktionen. Aus jeder Erfahrung ziehen sie für sich ihre Schlüsse. Und nicht zuletzt werden die Strukturen auf Vereins- und Verbandsebene sowie im Wettkampf immer professioneller.
Was zugleich bedeutet, dass es sich leistungsorientiert zentriert …
Je höher man die Pyramide emporklettert, desto spitzer wird sie. Es spielen immer kleinere Faktoren eine immer größere Rolle – und je höher der Konkurrenzkampf ist, umso mehr sind die Jungs gezwungen, an sich zu arbeiten, um weiterzukommen.
Es gibt immer wieder Vereine, die ihre Spieler nicht zur Sichtung des Landesverbands schicken, weil sie nicht wollen, dass er von größeren Vereinen oder Leistungszentren abgeworben wird. Wenn die Spieler nach Kienbaum oder Heidelberg kommen, spielen einige noch in kleineren Vereinen. Inwiefern beratet ihr in Sachen Vereinswechsel?
Natürlich haben die Leistungszentren professionellere Voraussetzungen und arbeiten in der Regel auf einem höheren Niveau, was positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Talente haben kann. Es gibt jedoch nicht nur einen Weg, denn vielleicht fehlen einem trotz der professionelleren Strukturen die Familie, Freunde und das vertraute Umfeld.
Was folgt daraus?
Wenn ich nach meiner Meinung gefragt werde, frage ich gerne zurück: Was brauchst du? Wonach strebst du? Warum beschäftigst du dich mit dieser Frage? Wenn ein Spieler die Antworten auf diese Fragen hat, findet er seinen Weg oft selbst und trifft die Entscheidung, die zu seiner individuellen Situation am besten passt. Denn am Ende muss jeder Spieler diese Entscheidung für sich treffen und es ist wichtig, dass ein Jugendlicher das lernt – und dann auch die Konsequenzen seiner Entscheidung trägt. Das gehört zur Entwicklung dazu.
Du bist jetzt als Jugend-Nationaltrainer beim Deutschen Handballbund, aber zuvor hast du in Bundesligavereinen gearbeitet – und damit genau an der Stelle, wo die Gap ist. Warum ist es manchmal so schwierig für junge, hochtalentierte Spieler, im Profibereich Fuß zu fassen?
Wir gehen oft davon aus, dass ein Spieler nach der A-Jugend in der Lage sein muss, in einem Bundesligaspiel alles richtig zu machen, weil es dort wiederum um Punkte und Existenzen geht. Die Jungs müssen aber erst einmal Erfahrung im Männerbereich sammeln. Sie müssen die Chance bekommen, auf diesem professionellen Niveau zu arbeiten, denn es dauert einige Monate, bis sie die Anforderungen adaptieren und einer Mannschaft helfen können. Und, auch das gehört zum Prozess eines jungen Spielers: Sie müssen Fehler machen können und lernen. In einem Land mit der stärksten Liga der Welt herrschen an diesem Punkt erschwerte Bedingungen.
Wie kann man diese Bruchstelle verkleinern?
Es braucht Mut und Geduld der Vereine und Trainer, mit diesen Jungs zu arbeiten, ihnen zu vertrauen und ihnen die Zeit geben, damit sie sich an dieses Niveau anpassen können. Da sind wir vielleicht noch nicht so weit, wie es schön wäre, aber wir sind deutlich weiter als vor zehn oder 15 Jahren. Ich sehe viele Jungs, die in der 1. und 2. Bundesliga ihre Schritte gehen und ich glaube, dass dies der richtige Weg ist.
Sobald sie auf einem Niveau sind, dass sie auf ihr Talent aufmerksam gemacht haben, muss man das forcieren – und ob es sechs Monate oder ein Jahr dauert, darf nicht entscheidend sein. Viele Jungs, die diese Chance bekommen haben, haben nicht enttäuscht, sondern die Erwartungen erfüllt. Das ist positiv und wir sind auf einem guten Weg, auch wenn im Bundesligageschäft oft zu wenig Zeit bleibt, um sich intensiv mit den jungen Kerlen auseinander zu setzen.
Lass uns zum Abschluss einen Blick auf deine U18-Nationalmannschaft werfen. Im Sommer steht die erste Europameisterschaft für den Jahrgang an. Ist die Spannung bei den Jungs bereits zu spüren?
Ich bin ehrlich: Nein, noch nicht. Bis August ist ja auch noch ein bisschen Zeit. Ich glaube schon, dass die Jungs träumen, und das ist auch richtig, aber vorher stehen noch so viele Dinge an. Die Saison geht in die heiße Phase, es geht vielleicht sogar um die Deutsche Meisterschaft oder die Qualifikation für die kommende Saison in der Jugendbundesliga. Auch auf schulischen Themen muss zum Schuljahresende noch einmal der Fokus liegen. Daher werden Spannung und Vorfreude wachsen, wenn die Lehrgänge im Sommer beginnen und das Turnier immer näher rückt.
Wie weit ist die Kaderplanung aktuell bereits gediehen?
Ich kann dir wirklich noch nicht sagen, wie der Kader aussehen wird. Wir sprachen eingangs über Verletzungen oder die Entwicklungssprünge in kurzer Zeit. Diese Aspekte werden in den kommenden Monaten noch eine Rolle spielen. Und das ist sicherlich auch ein Grund, warum die Europameisterschaft noch nicht im Fokus steht. Sie wissen noch nicht, ob sie dabei sein werden. Im Sommer, bei den Lehrgängen, wird das Turnier für die Jungs, die dabei sein werden, viel greifbarer sein.
Wie groß ist die Vorfreude bei dir?
Ich freue mich sehr auf das Turnier. Es macht mir großen Spaß, mit den Jungs zu arbeiten und ich merke, wie wissbegierig sie sind und wie groß die Bereitschaft ist, an sich zu arbeiten und sich zu verbessern. Ich freue mich sehr darauf, diese Entwicklung auch bei ihrem ersten Großturnier zu begleiten. Ich persönlich habe letztes Jahr auch noch Erfahrung gesammelt und kann davon in diesem Jahr, mit den jüngeren Spielern profitieren. Ich bin sehr gespannt, wie sie mit dem ganzen Prozess umgehen – der Mannschaftsbildung, der Formulierung von Zielen und den Höhen und Tiefen, die man im Laufe einer Meisterschaft erlebt.
Ist es noch zu früh für die Frage, was diesem Jahrgang zuzutrauen ist?
Aktuell auf jeden Fall. Wir können sicherlich davon ausgehen, eine konkurrenzfähige Mannschaft zu schicken. Beim EYOF waren die Jungs bereits sehr erfolgreich und wir werden sicherlich die höchsten Ansprüche an uns stellen, aber jetzt müssen wir erst einmal gucken, was bis zum Sommer noch passiert. Je näher wir an der EM sind, desto realistischer können wir ein Ziel formulieren.
Ich bin mir sicher, dass wir ein hohes Niveau in Montenegro erwarten können. Auch alle anderen Länder entwickeln sich und investieren sehr viel. Die Jungs werden für ihr Alter sehr weit sein und ich freue mich auf spannende und hoffentlich gute Handballspiele. Ich will mich auch weniger mit einer konkreten Platzierung beschäftigen. Es geht um die Entwicklung der Jungs. Nichtsdestotrotz wollen wir als Deutscher Handballbund immer zeigen, dass wir auf dem Niveau vorne dabei sein können – und ich glaube, dass wird machbar sein.