Dass wir knappe Entscheidungen haben, macht den Handball aus.“ – Interview mit Kay Holm

9. November 2025| Marc Fasthoff

Wenn jemand wissen muss, ob das Handball-Regelwerk zu kompliziert ist oder nicht, dann er: Kay Holm ist Leiter Lehre im Schiedsrichterwesen des Deutschen Handballbundes. Für den „Tag des Schiedsrichters“ am 11. November stand Holm Rede und Antwort zu den Paragrafen, die das Gerüst für unsere Sportart bilden… 

 

Kay, hin und wieder hört man die Feststellung, dass die Regeln im Handball zu kompliziert sein im Vergleich zu anderen Sportarten wie dem Fußball, was man als Zuschauer sofort versteht. Als derjenige, der das Regelwerk auf höchster Ebene lehren soll: Wie kompliziert ist das Handball-Regelwerk wirklich? 

Ich muss ein bisschen schmunzeln, denn auch für den Handball-Zuschauer ist Handball grundsätzlich erst einmal einfach zu verstehen. Der Ball muss in das Tor und die Grundregeln sind einfach. Wenn es um Feinheiten und bestimmte Bereiche geht, dann muss man sicherlich genauer hingucken, aber Ausnahmen bestätigen ja immer die Regel (lacht). Das ist übrigens beim Fußball nicht anders – wenn ich an die Regeln zu Handspiel und Abseits denke, ist das auch kompliziert genug. In den Feinheiten kann keine Sportart für sich in Anspruch nehmen, einfach zu nehmen.

Dass man drei Schritte machen und nicht in den Kreis treten darf, mag einfach zu erklären sein, aber die Anwendung von Regeln zu Abwehr durch den Kreis, Stürmerfoul und passivem Spiel sind schwieriger zu vermitteln. So bleibt die Frage: Ist das Handball-Regelwerk zu kompliziert – oder einfach nur komplex? 

Ich stimme uneingeschränkt zu, dass unser Regelwerk komplex ist. Wenn man alle Regeln berücksichtigen und das gesamte Spiel unter taktischen Gesichtspunkten verstehen will, ist es unfassbar komplex. Alleine, wenn wir uns den Anwurf anschauen, ist das aus Schiedsrichtersicht schon höchst kompliziert, weil man für den Anpfiff nicht nur auf Körperteile von Angreifern und Abwehrspielern und den Ball gucken muss, sondern die Anwurfzone als auch den fiktiven Korridor im Blick haben muss. Das sind alles verschiedene Faktoren, die man gleichzeitig bewerten muss. Zum Glück hatten wir eine Vereinfachung im Sommer (mehr zum Anwurf lest ihr hier); dass die Spieler diese noch nicht immer umsetzen, ist etwas anderes…

Das war jetzt die Schiedsrichter-Sicht (Kay Holm nickt). Mir ging es allerdings weniger um die Schiedsrichter-Perspektive, sondern um die Frage: Ist das Regelwerk für den „normalen“ Handball-Fan sowie die Fernsehzuschauer, die sich anders als ihr nicht täglich mit den Regeln auseinandersetzen, zu kompliziert? 

Das ist zugegeben ein schwieriger Punkt. Von den Schiedsrichtern wird die Regelkenntnis und die Umsetzung der Regeln erwartet, aber das Spiel soll zugleich attraktiv und verständlich für den Zuschauer sein. Und das sind unterschiedliche Perspektiven, die wir unter einen Hut bekommen müssen.

Der Handball ist attraktiv, wenn es ein schnelles Spiel ist, wenn viele Tore fallen und eine gesunde Härte zugelassen wird, weil Zweikämpfe zu unserem Sport gehören. Das muss jedoch mit dem Regelwerk einhergehen, damit es nicht zu einer erhöhten Verletzungsgefahr und unfairem Spiel kommt. Es ist ein Vabanquespiel: Die Attraktivität und der Kampf für die Zuschauer auf der einen Seite und die Betrachtung unser Regel-Gesichtspunkten durch die Schiedsrichter.

Ein Dauerthema – sowohl auf euren Lehrgängen als auch in der Diskussion der Fans – sind die Fifty-Fifty-Entscheidungen. Ein Tor ist eine schwarz-weiß Entscheidung, ein Stürmerfoul das Paradebeispiel für eine Fifty-Fifty-Situation, die mal so und mal so gewertet werden kann. Inwiefern ist diese Unschärfe ein Problem für die Verständlichkeit des Handballs? 

Dass wir knappe Entscheidungen haben, macht den Handball aus. Es geht manchmal um wenige Zentimeter oder Millisekunden, aber genau das ist der Reiz. Wenn wir bei deinem Beispiel bleiben: Ob es Stürmerfoul oder Siebenmeter gibt, ist oft eine unfassbar enge Entscheidung. Wer war früher am Ort, wessen Fuß war schneller, wer hat somit den Raum zuerst besetzt? Das wird aufgrund der Geschwindigkeit und der Dynamik in unserem Sport immer eine knappe Situation bleiben, aber das ist aus meiner Sicht auch kein Problem.

Weil?

Wir haben im Handball zum einen nicht so viele wirkliche Streitereien oder unfaire Spielergebnisse durch Fifty-Fifty-Entscheidungen und wir müssen uns zum anderen aufgrund der Geschwindigkeit von dem reinen Schwarz-Weiß-Denken trennen. Unser Sport findet immer in Bewegung statt und da gibt es halt einfach knappe Situationen, die sich über die gesamte Spielzeit ausgleichen. Die Kunst als Schiedsrichter ist es, die Fifty-Fifty-Entscheidungen im Verlauf des Spiels so zu fällen, dass die gleichen bzw. ähnliche Situationen auf beiden Seiten gleich bewertet werden. Im Idealfall geschieht das auch durch die unterschiedlichen Schiedsrichter gleich, das ist die schwierige Arbeit innerhalb des Schiedsrichter-Teams.

„Die innere Waage muss ausgeglichen sein“: Das wäre wohl das dazu passende Mantra, was man von Schiedsrichtern immer wieder hört. 

Genau. Stürmerfoul war dafür ein gutes Beispiel, aber auch Schritte sind immer eine knappe Geschichte. Dabei ist die Regel theoretisch ganz klar und auch einfach zu erklären, aber auf dem Handballfeld ist sie in der Praxis für Schiedsrichter unheimlich schwierig anzuwenden.

Nach dem Regelwerk wäre genau das aber eine Schwarz-Weiß-Regel, denn entweder sind es drei oder vier Schritte… 

Handball ist aber eben kein statisches Spiel, wo man der Bewegung jedes Fußes folgen kann. Links, rechts, links: Das ist nicht möglich. Die Aktionen finden in einer hohen Geschwindigkeit statt, die Landung spielt eine Rolle, der Ball, die Wurfhand, die Bewegung mit oder gegen die Hand: Da kann kein Schiedsrichter einfach nur mitzählen. Es braucht ein Gefühl, ob es Schritte sein könnten. In den Eins-gegen-Eins-Duellen der Bundesliga kann niemand mitzählen – auch kein einziger Zuschauer -, ob es drei oder vier Schritte sind. Um das zu beurteilen, haben unsere Schiedsrichter Bilder im Kopf, wie Schrittfehler bzw. wie ein regelgerechtes Schritte-Verhalten aussieht. Wir stellen daher immer wieder Videosequenzen zur Verfügung, damit die Abläufe verinnerlicht werden.

Das Gefühl, ob es Schritte sind, die Kunst als Schiedsrichter: Das zeigt, das die Arbeit des Schiedsrichters mehr ist, als das Regelwerk auswendig zu lernen. Dennoch braucht es natürlich die Kenntnis des Regelwerks, der Erläuterungen, der Guidelines. Wie lange dauert es, bis man von sich behaupten kann, wirklich regelsicher zu sein? 

Ich habe 30 Jahre gepfiffen, davon eine lange Zeit in der Bundesliga, und bin jetzt seit acht Jahren in der Lehre im Deutschen Handballbund – und trotzdem lerne ich jede Woche noch dazu. Es gibt immer Szenen oder Ereignisse, die ich so noch nie gesehen habe. Eine Situation regeltechnisch zu bewerten, ist auch nur die eine Seite – dieses Wissen in der Praxis auf der Platte umzusetzen und vielleicht noch anderen erklären zu können, warum etwas so ist: Das ist noch einmal eine ganz andere Sache. Denn natürlich kennen unsere Spitzenschiedsrichter das Regelwerk, sie beschäftigen sich jede Woche damit, aber sie treffen trotz aller Regelsicherheit auf der Platte falsche Entscheidungen.

Wie gelingt es gerade am Anfang der Schiedsrichterkarriere, diese Regelsicherheit erst einmal zu gewinnen? 

Durch das aktive Pfeifen, aber auch das Gucken von jedem Handballspiel sammelt man Erfahrung. Jedes Spiel liefert neue Bilder und neue Perspektiven. Ansonsten kann es nicht schaden, einen Blick ins Regelbuch zu werfen – und das gerne – schönes Wortspiel – am besten regelmäßig (lacht). Das hilft extrem, um Regeln und auch Regelzusammenhänge zu verstehen. Ich muss als Schiedsrichter bereit sein, mich mit der Komplexität des Regelwerks zu beschäftigen.

Für Schiedsrichter-Neulinge bedeutet das: Am Anfang etwas nicht zu wissen, ist normal – und niemand muss von sich erwarten, dass er alles weiß? 

Auf keinen Fall muss jemand alles wissen! Wir lernen ja generell jeden Tag dazu, ob jetzt im Schiedsrichterwesen, im Beruf oder im Alltag. Jedes Spiel bietet einem die Möglichkeit, neue Szenen, neue Regeln, neue Dinge dazuzulernen. Es ist eine ständige Weiterentwicklung vom ersten E-Jugend-Spiel, in dem man oft ohne Bestrafung auskommt bis zum Oberliga- oder auch Bundesliga-Schiedsrichter. Und selbst der Bundesliga-Schiedsrichter lernt jedes Mal dazu.

Gerade neue Schiedsrichter haben oft noch das Ziel, fehlerfrei zu pfeifen … 

… wir streben alle danach, fehlerfrei zu sein, aber als Schiedsrichter muss man sich von diesem Gedanken verabschieden. Fehlerfrei pfeifen zu können, wird einfach nicht gehen; egal, in welcher Spielklasse. Das gilt für die Mannschaften übrigens ebenso; sie wollen fehlerfrei spielen, aber das geht auch nicht. Es geht vielmehr darum, möglichst wenig Fehler zu machen. Wenn man etwas noch nie selbst erlebt hat, steht man vielleicht auch mal ratlos auf dem Spielfeld. Man pfeift dann trotzdem und trifft eine Entscheidung aus dem Bauch heraus. Die kann falsch sein, die kann zufällig richtig sein – oder vielleicht ist sie falsch, aber die Mannschaften kaufen sie trotzdem, weil sie es  selbst nicht besser wissen. Alles ist völlig normal kommt sowohl im Amateur- als auch im Bundesligabereich vor. Das Wichtigste ist es, keine Angst davor zu haben, Entscheidungen zu treffen – und alles andere findet sich.

Zum Abschluss: Welche Regel ist die Regel, die du (wenn du es könntest) gerne vereinfachen würdest?  

Aus Perspektive der Schiedsrichter oder als Handball-Fan?

Zuerst als Handball-Fan … 

Beim passiven Spiel ist der Ermessensspielraum aus meiner Sicht immer noch zu groß – gerade im Vergleich zu den anderen Regeln. Das Gefühl des Schiedsrichters ist ausschlaggebend, ob bzw. der Arm gehoben wird oder nicht. Die Regelung mit dem vierten Pass nach dem Vorwarnzeichen ist klar, aber die Zeit davor ist nicht geregelt; da würde ich mir weniger Ermessensspielraum wünschen. Fairerweise muss ich aus Schiedsrichtersagen sagen, dass wir seit dem Sommer Hilfsmittel an die Hand bekommen haben, um zumindest unsere Schiedsrichter besser zu schulen.

Und welche Regel würdest du aus Schiedsrichter-Sicht gerne vereinfachen?

Da wäre ich beim Thema Strafmaß – und zwar nicht am Regeltext, das ist glasklar in diesem Punkt, sondern ich würde mir eine Vereinfachung in der Umsetzung wünschen, dass wir nicht so stark unterscheiden zwischen Abwehr und Angriff. Das gleiche Foul sollte im Angriff das gleiche Ergebnis bedeuten wie das Foul in der Abwehr. Wir gehen aber restriktiver gegen die Abwehr als gegen den Angriff vor, obwohl das Regelwerk nicht nicht zwischen Angriff und Abwehr entscheidet.