„Der Schiedsrichter ist selbst sein schärfster Kritiker.“ – Interview mit Kay Holm
November 1, 2024| Marc Fasthoff
Kay Holm ist als Leiter Lehre im Schiedsrichterwesen des Deutschen Handballbundes für die Weiterbildung der Unparteiischen zuständig. Der ehemalige Bundesliga-Schiedsrichter ist zudem als Delegierter bei Welt- und Europameisterschaften im Einsatz. Im Interview spricht er über die Denkweise von Schiedsrichtern und populäre Regel-Irrtümer, die ihm im Alltag immer wieder begegnen …
Kay, wenn du Trainern erklären müsstest, wie ein Schiedsrichter denkt: Was würdest du ihnen sagen?
Ein Schiedsrichter denkt: Ich will mein Bestes geben und ich will keinen Fehler machen. Schiedsrichter haben den Hang zum Perfektionismus. Das leben sie aus, Schiedsrichter kritisieren sich selbst am härtesten. Dass ein Trainer Fehler bei den Schiedsrichtern anmerkt und einfordert, diese zu erklären, ist daher oft nahezu wirkungslos, weil der Schiedsrichter das selbst tut. Der Schiedsrichter ist selbst sein schärfster Kritiker. Und, was man sagen muss …
Ja?
… ohne besserwisserisch klingen zu wollen: Schiedsrichter sind üblicherweise Experten auf ihrem Gebiet, genau wie Trainer in ihrem Bereich. Die Trainer formen Spieler und Mannschaften und erklären ihnen das Spiel und die Schiedsrichter kennen sich eben im Regelwerk besonders gut aus. Manchmal ist es leider das Manko, dass Schiedsrichter während des Spiels, ihre Arbeit jedoch nicht so gut erklären können, weil sie gerade in Action sind.
Wie meinst du das?
Schiedsrichter sprechen eine andere Sprache als Trainer, sie nutzen oft kurze Gesten anstatt Worte, denn das Spiel soll ja weitergehen. Und durch die andere Sprache verstehen sich die Beteiligten leider nicht immer und es entstehen Konflikte. Es bedarf guter Kommunikation und Verständnis für die Perspektive des Gegenüber. Hinzu kommt, dass es keine Zieldeckung gibt.
Keine Zieldeckung?
Die beiden Trainer möchten jeweils das Spiel gewinnen, den Schiedsrichtern ist es egal, wer das Spiel gewinnt. Der Schiedsrichter will einfach fehlerfrei pfeifen. Der höchstmögliche Wert ist Neutralität. Im Volksmund werden Schiedsrichter oft genug als Unparteiische bezeichnet und das trifft es ganz gut.
Was folgt daraus für eine Empfehlung an die Trainer?
Wir kommen einen Schritt weiter, wenn die Trainer zu einem Perspektivwechsel bereit sind; wenn sie in der Lage sind, die Rollen-Perspektive des Schiedsrichters einzunehmen und mit seiner Brille die Spielleitung oder auch einzelne Entscheidung zu betrachten. Dazu kann es, ganz wörtlich betrachtet, auch gehören, sich die räumliche Perspektive bewusst zu machen. Der Schiedsrichter hat in der Regel eine ganz andere Position als der Trainer, einen anderen Blickwinkel, aus der er die Aktion bewertet. Als Trainer muss in der Lage sein, dies zu akzeptieren.
Wie sehr fordert ihr von euren Schiedsrichtern, sich umgekehrt in die Perspektive des Trainers zu versetzen?
Die Schiedsrichter müssen unbedingt in der Lage sein, das Spiel aus Sicht des Sportlers bzw. des Trainers zu sehen, das fordern wir von ihnen. Sie müssen ein Verständnis für das Spiel haben – und ebenso ein Verständnis, dass der Trainer aus seiner räumlichen Perspektive von der Bank aus die Dinge anders sieht – und vielleicht sogar durch den anderen Blickwinkel recht haben könnte. Wenn da gegenseitige Verständnis vorhanden ist, ist der Umgang leichter und nicht so konfliktträchtig.
Und als Schiedsrichter kann es durchaus mal helfen, sich eine Position an der Seitenlinie zu suchen und einen ähnlichen Blickwinkel wie der Trainer einzunehmen. Das sollte man bei der Suche nach der besten Position, um seine Entscheidung treffen zu können, nicht außer acht lassen.
Du arbeitest mit den Schiedsrichtern im Spitzenbereich. Was ist auf dieser Ebene der häufigste Wunsch, der von Trainern an euch herangetragen wird?
Das Thema Kommunikation ist gerade in aller Munde, gerade im Profibereich. Der Wunsch ist es, dass die Schiedsrichter das Spiel leiten, dass sie es managen, indem sie das Spiel zulassen und sich möglichst wenig einmischen, aber zugleich mit den Spielern zu sprechen und sich durch kurze, auch nonverbale Signale zu erklären. Das ist Leadership, das von unseren Schiedsrichtern verlangt wird: Spieler und Mannschaften mit Kommunikation durch ein Spiel zu begleiten und es dabei in Balance zu halten; auf beiden Seiten gerecht zu entscheiden und beide Mannschaften gleich zu behandeln.
Das ist jetzt sehr, entschuldige den Ausdruck, schwammig. Was sind konkrete Irrtümer, die dir immer wieder begegnen?
Da fällt mir direkt die „Doppelbestrafung“ ein. Der Begriff kommt oft von Trainern und auch von Fernsehkommentatoren und Experten. Ich möchte daher auch an dieser Stelle unbedingt klarstellen: Siebenmeter und Zeitstrafe sind keine Doppelbestrafung! Es sind zwei unterschiedliche Regeln, die von den Schiedsrichtern zur gleichen Zeit angewendet werden.
Der Siebenmeter ist ausschließlich dafür da, die Spielfortsetzung zu bestimmen. Wenn ein Spieler bei einer klaren Torgelegenheit regelwidrig am Wurf gehindert wurde, wird mit einem Siebenmeter weitergespielt; das Spiel wird auf diese Art und Weise fortgesetzt; so, wie es nach einem normalen Foul mit einem Freiwurf weitergeht. Wenn das Foul bei einer klaren Torgelegenheit so deftig war, dass es eine Strafe braucht – ob Zeitstrafe oder Disqualifikation – handelt es sich dabei um die persönliche Strafe für den foulenden Spieler. Dass ein Siebenmeter als zusätzliche Strafe gesehen wird, ist ein Irrtum, der immer wieder falsch im Sprachgebrauch auftaucht.
Die Erklärung klingt so routiniert, als hättest du sie schon öfter abgegeben …
Das ein oder andere Mal (lacht). Manchmal ist es echt abenteuerlich, welche Irrtümer oder Annahmen in den Köpfen verankert sind, selbst im Bundesligabereich.
Hast du noch ein Beispiel?
Das Zeitspiel. Der Name ist schon irreführend, weil es keine zeitliche Befristung für eine Angriff gibt. Es kommt ja vielmehr darauf an, was eine angreifende Mannschaft tut, um einen erfolgreichen Abschluss auf das Tor zu bekommen. Es kommt also auf die Aktivität an, nicht auf die Tatsche, ob das Team 30, 40 oder 50 Sekunden spielt. Es wird immer wieder von Tribünen oder Bänken gefordert: „Der Angriff läuft jetzt schon 45 Sekunden, das muss Zeit sein!“ Das lässt sich so pauschal nicht betrachten. Wenn die Abwehr das Spiel immer wieder durch Fouls unterbricht und die Angreifer dadurch gar nicht dazu kommen, ein Angriffsspiel aufzuziehen, ist die Forderung des passiven Vorwarnzeichens, weil der Angriff schon lange dauert, nicht durch das Regelwerk gedeckt. Entscheidend ist, ob die angreifende Mannschaft Willens und in der Lage ist, ein Tor zu erzielen.
Das Gegen-Argument dürfte lauten: Abwehrarbeit muss doch aber belohnt werden …
Ja, regelgerechte Abwehrarbeit – und ein ständiges Festmachen mit Fouls ist keine regelgerechte Abwehrarbeit. Wir wollen beispielsweise ein gutes Verschieben und schnelle Beine belohnen. Wenn ich jedoch immer nur den Ballführer sofort klammere, dann ist das zwar Abwehrarbeit, aber keine regelgerechte Abwehrarbeit und auch kein passives Spiel. Auch Abwehr durch den Kreis ist oft ein Diskussionsthema.
Weil immer wieder der Siebenmeter gefordert wird?
Genau. Es heißt dann: „Das muss Siebenmeter sein, die Abwehr steht im Kreis.“ Es geht jedoch nicht allein um das Betreten der Linie oder des Torraums, sondern darum, zu erkennen, ob eine Spielsituation des Angreifers verhindert worden ist, indem sich der Abwehrspieler durch das Betreten einen Vorteil verschafft hat. Wenn es zu einem Zusammenprall kommt, wird oft Stürmerfoul moniert, aber die Schiedsrichter geben Siebenmeter, weil die Situation des Zusammenpralls nur entstehen konnte, weil sich der Abwehrspieler zuvor durch den Torraum bewegt hat.
Das ist aber auch eine der prädestinierten Fifty-Fifty-Entscheidungen …
Das stimmt. Es gibt aber auch Situationen, wo der Torraum betreten wird und es keinen Siebenmeter gibt – das ist das normale dynamische Verhalten im Rahmen des Handballspiels. Es prallen Körper aufeinander und dieser Kontakt ist auch erlaubt, aber wenn der Abwehrspieler durch diese Dynamik mit den Hacken auf der Linie steht, darf es keinen Siebenmeter geben, weil er dadurch keinen Vorteil hat. Es wäre trotzdem zu dieser Foulsituation gekommen wäre. Das ist ganz klar kein Vorteil, da gibt es einen Freiwurf. Das bloße Betreten der Linie genügt nicht für einen Siebenmeter
Wie frustrierend ist es aus Schiedsrichtersicht, dass einem immer wieder die Kompetenz abgesprochen wird?
Ich bin lange in diesem Bereich und kann nur sagen: Man lebt damit (schmunzelt). Je höher man unterwegs ist, umso größer ist oft eine gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung gegeben. Und häufig wächst das Verständnis, wenn Trainer im Training selbst pfeifen (lacht). Mir haben Trainer danach schon öfter gesagt, dass selbst diese Viertelstunde im Training ganz schön schwierig ist und die Spieler mit dem pfeifenden Trainer über seine Entscheidungen diskutiert haben. Das ist ein wunderbarer Perspektivwechsel!
Worauf kommt es im Verhältnis zwischen Schiedsrichter und Trainer an?
Respekt und Anerkennung im gegenseitigen Austausch. Wenn man die Arbeit des anderen anerkennen und den anderen als Experten anerkennen kann, hilft das und macht das gegenseitige Feedback wertvoller. Ich kann auch Trainern unterhalb der Bundesliga nur empfehlen, den Austausch zu suchen und sich mit Fragen an Schiedsrichter oder Schiedsrichterwarte in ihrem Landesverband oder Verein zu wenden. Bundesligatrainer suchen den Kontakt auch immer wieder und stellen Fragen. Es geht um den Handballsport, das hilft allen.
Zum Abschluss eine Frage an den langjährigen Schiedsrichter-Experten: Stimmt eigentlich das Klischee, dass Schiedsrichter, die selbst noch spielen, am schwierigsten zu pfeifen sind?`
Ja, weil sie die Entscheidungen vorher wissen und versuchen, sie zu beeinflussen, bevor der Pfiff kommt.
Was?
(mit einem Augenzwinkern) Das ist die goldene Regel, das können sich auch die Trainer abspeichern. Die Entscheidung während des Spiels zu bemängeln, nachdem der Schiedsrichter gepfiffen hat, macht keinen Sinn. Da ist die Entscheidung gefallen und gute Schiedsrichter fallen nicht um. Sie nehmen daraus vielleicht etwas für die nächste Situation mit, aber die Entscheidung selbst bleibt bestehen; den Videobeweis an dieser Stelle bewusst ausgeklammert, es geht um normale Entscheidungen. Wenn du jedoch einen Schiedsrichter als Spieler auf dem Feld hast, macht er seine Bemerkung vor dem Pfiff in der Hoffnung, dadurch einen für die eigene Mannschaft positiven Einfluss auf die Entscheidung zu nehmen. Das macht es so schwierig, als Schiedsrichter einen anderen Schiedsrichter zu pfeifen, weil er weiß, wie du denkst (lacht).