„Das Sieben gegen Sechs erhält international immer mehr Einzug.“ – Interview mit Florian Kehrmann

Florian Kehrmann ist seit 2014 Trainer beim Erstligisten TBV Lemgo Lippe. Als Spieler wurde der frühere Rechtsaußen 2004 Europameister und 2007 Weltmeister im eigenen Land. Am Finalwochenende der EHF EURO 2024 war Kehrmann in Köln. Im Gespräch mit Julia Nikoleit zog er nach dem letzten deutschen Spiel in der Lanxess-Arena eine Bilanz von dem Turnier, sprach über das „Sieben gegen Sechs“ und das Gefühl, seine Spieler auflaufen zu sehen …. 

Quelle: Matthias Wieking/TBV Lemgo Lippe

Florian, was bleibt am Ende von der in Deutschland lange ersehnten Heim-Europameisterschaft? 

Es bleibt, dass wir Deutschen im Handball die besten Gastgeber sind, die es geben kann. Wir haben Maßstäbe gesetzt, mit Begeisterung, großen Hallen und einer Euphorie, was den Handballsport in Deutschland angeht. Das ist ein toller Erfolg.

Und sportlich?  

Sportlich haben wir mit dem Halbfinale das erreicht, wo wir stehen. Sicherlich begünstigt durch ein gute Gruppenauslosung und ein bisschen Schützenhilfe, aber wir waren im Halbfinale und hatten das mit dieser jungen Mannschaft und der Euphorie auch verdient. Letztendlich wurde es der 4. Platz, aber die drei Mannschaften, die höher stehen, gehören auch an die Spitze.

Was fehlt der deutschen Mannschaft, um diesen letzten Schritt – zu einer Medaille – noch zu machen? 

Ich glaube, dass wir noch die ein, zwei Ausnahmespieler entwickeln müssen. Wir haben zwei, drei Spieler, die in diese Rolle reinwachsen können, sie müssen nur noch konstanter werden. Wir müssen auch gucken, dass wir vielleicht die beste Mannschaftsleistung in diesem Konstrukt schaffen, mit diesen ganzen Mannschaften, die hinter den großen Drei kommen. Dann kann man viel erreichen und das muss das Ziel sein.

Die Bundesliga hat viele Spieler für das EM-Turnier gestellt, auch beim Finalwochenende waren noch zahlreiche Akteure aus der Bundesliga aktiv. Wie guckt man als Bundesligatrainer auf so ein Turnier? 

Heute (das Interview wurde unmittelbar nach dem Spiel um Platz Drei am letzten Turniertag geführt, Anm. d. Red.) war ich größtenteils Fan von Deutschland, aber ansonsten guckt man als Trainer natürlich das ganze Turnier an. Man hat eigene Spieler da und beobachtet auch andere Spieler, gerade junge Talente.

Das ist für uns beim TBV Lemgo das, womit wir arbeiten müssen und damit die Hauptaufgabe. Ich kenne jeden Spieler, der mitgespielt hat, weil wir sehr intensiv scouten, aber man beobachtet, wie sie sich entwickeln und wie sie vielleicht hier schon Akzente können. Das haben auch ein paar junge Spieler von uns geschafft

Wie sehr fiebert bzw. leidet man mit seinen Spielern mit? 

Wir hatten in Thomas Houtepen einen jungen Spieler dabei, der sich eine schwere Knieverletzung zugezogen hat. Das ist ganz bitter, wenn man das Spiel gesehen hat und erst nicht weiß, was los ist. Dann bekommt man den Anruf und die Diagnose – das ist erschütternd. Da muss man als Trainer dem Jungen die Sicherheit geben, dass es weitergeht.

Was ist dir taktisch bei der Europameisterschaft aufgefallen? 

Ich finde, dass das Sieben gegen Sechs international immer mehr Einzug erhält. Wir haben gesehen, dass es die Schweden im Spiel um Platz Drei und die Dänen im Halbfinale eingesetzt haben. Die Österreicher, die Portugiesen und auch die Färöer haben damit viel Erfolg gehabt. Wir haben also ganz viele Nationen, die es inzwischen wirklich als taktisches Mittel nutzen; nicht immer, aber über weite Strecken. Ich glaube, das wird immer mehr im Welthandball kommen, um Phasen zu überbrücken und vielleicht brauchen wir das auch.

In Niclas Kirkelökke und Christoph Steinert haben zwei Rückraumspieler aus der Bundesliga in der Nationalmannschaft auf Rechtsaußen gespielt und auf der Halbposition verteidigt. Wird der klassische Außen unwichtiger, weil der Fokus auf die Deckung gelegt wird? 

Das glaube ich nicht. Das ist individuell eine Geschichte, da hat jede Mannschaft ihre Ausrichtung. Es geht darum, die Kräfte und einen Wechsel zu sparen. Und Mathias Gidsel ist nicht nur ein sensationeller Halb-, sondern auch Außenverteidiger, das hat man gesehen.

Die Heim-Europameisterschaft sollte einen Schub für den Handball geben: Das war die große Hoffnung, die mit dem Turnier verbunden war. Ist das aus deiner Sicht gelungen oder noch zu früh, um das zu sagen? 

Wenn man gesehen hat, was vor dem Halbfinale in Deutschland los war, wenn man gesehen hat, wer uns die Daumen gedrückt hat, wenn man gesehen hat, wer voll hinter dem Handball steht, ist das gelungen. Es wird jetzt jedes Jahr die gleiche Aufgabe sein: Wir müssen das in den Februar bringen und so schnell wie möglich flächendeckend in die Schulen. Das ist das Wichtigste. Auch in Lemgo merken wir, dass eine Euphorie da ist und dass Leute auf einmal handballinteressiert sind, die es vorher noch nicht so waren. Wenn die Nationalmannschaft Erfolg hat, hat wirklich jeder Verein etwas davon.