„Als Wind unter den Flügeln nutzen“ Interview mit Erik Wudtke

Erik Wudtke ist seit 2020 Co-Trainer bei der deutschen Männer-Nationalmannschaft. Die WM 2023 in Polen und Schweden war sein drittes Großturnier an der Seite von Bundestrainer Alfred Gislason. Im Interview am Finalwochenende in Stockholm, wo Deutschland sich mit dem fünften Platz das bestmögliche Ergebnis nach dem Ausscheiden im Viertelfinale holte, zog unser Vorstandsmitglied eine Bilanz von der Weltmeisterschaft und berichtet von seinen Eindrücken … 

Erik, wie fällt deine Bilanz von der Weltmeisterschaft aus? 

Sportlich hatten wir sicherlich Höhen und Tiefen drin, aber unter dem Strich muss man festhalten, dass wir mehr Highlights als Tiefpunkte hatten. Wir haben in allen Spielen, die wir gespielt haben, tolle Leistungen gezeigt; wenn auch unterschiedlich lange (schmunzelt). Das ist die Konsequenz im Resultat.

Fotoquelle: Sascha Klahn

Und im Detail? 

Nach einer sehr guten Vorrunde haben wir uns in der Hauptrunde mit zwei guten Spielen das Endspiel um den Gruppensieg gegen Norwegen erarbeitet. Da haben wir eine tolle Leistung gezeigt, aber eine Phase gehabt, wo wir die Konsequenz im Abschluss haben vermissen lassen. Das ist uns auch im Spiel gegen Frankreich in der zweiten Halbzeit zum Verhängnis geworden. Wir hatten die Chance, mit einem Gegenstoß auf drei Tore wegzuziehen, aber das gelingt uns nicht. Danach haben wir das Spiel leider so komplett aus der Hand gegeben, dass es nicht mehr gereicht hat.

Im ersten Platzierungsspiel haben wir einen großen Vorsprung verspielt und eine gute Chancenauswertung nicht über die Zeit retten können. Wir haben allerdings Moral gezeigt. Am Tag vor dem Spiel war der Tenor in der Mannschaft, dass sie das Spiel gewinnen will, vor dem Spiel war das Gefühl, dass sie es gewinnen kann – und am Ende haben sie das gemacht.

Ist die Konstanz über 60 Minuten der Entwicklungsschritt, den die Mannschaft mit Blick auf die Heim-Europameisterschaft in einem Jahr noch machen muss? 

Das ist immer so: Wenn du deine Leistung nicht über 60 Minuten bringst, musst du das entwickeln, wenn du ein Spiel gewinnen willst. Wir haben Phasen, in denen wir wirklich gut sind und gegen jede andere Mannschaft aus der Welt mithalten oder auch in Führung gehen können. Wir können die Spiele gewinnen, wir müssen es jetzt nur machen, das ist der letzte Schritt. Dazu fehlte die Erfahrung; dass es bislang noch nicht gelungen ist, um daraus zu lernen, aber das versucht die Mannschaft.

Wie kann man das lernen? 

Dazu ist nicht unwichtig, dass du es erlebt hast – und das haben die Spieler jetzt. Jetzt gilt es, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen und sich in den Stressmomenten daran zu erinnern, wie man es geschafft hat, in diese Situation zu kommen und was der Mannschaft bis zu dem Zeitpunkt den Erfolg gebracht hat. Das immer wieder zu wiederholen, ist die Aufgabe in unseren Trainingseinheiten und daheim in den Vereinen.

Wir müssen an den kleinen Schwächen, die jeder noch hat, intensiv arbeiten. Über diese persönliche Entwicklung gepaart mit der eingangs erwähnten Erfahrung kann es gelingen, den Leistungsstand auch in der Stresssituation abzurufen, weil man in dem Moment den Stress nicht negativ, sondern positiv erlebt. Das ist die psychologische Komponente und wenn das gelingt, werden wir diese Spiele auch gewinnen. Das ist das Ziel für das nächste Turnier.

Wie sah dein Alltag bei der Weltmeisterschaft aus? Sprich: Welche Aufgaben hattest du als Co-Trainer von Bundestrainer Alfred Gislason? 

Das war ganz unterschiedlich. Alfred macht das Video für die Mannschaft, ich arbeite mit Mattias (Torwarttrainer Mattias Andersson, Anm.) individueller. Wir stellen je nach Bedarf einzelne Videoclips für einzelne Spieler zusammen; so, wie es gewünscht ist und wie sie das brauchen. Ich spreche das auch mit dem ein oder anderen Spieler durch, der Austausch darüber haben will.

Außerdem bereite ich mit Alfred das Training vor und gehe natürlich auch in die Umsetzung. Ich bin am Anfang für den Schwerpunkt Aufwärmen und die Vorbereitung des Hauptteils zuständig. Ansonsten habe ich das Krafttraining vorbereitet und durchgeführt. Wenn ein Spieler mal nicht so gut drauf war, habe ich mit einem Motivationsvideo, einer Ansprache und einem Gespräch reagiert.

Und in den Phasen, wo die Spiele Schlag auf Schlag anstanden und wir beispielsweise auch Reisetage hatten, habe ich auch mögliche Gegner vorgeschnitten, um die knappe Zeit zu nutzen. Manchmal war das umsonst und ich hatte Spiele vorbereitet, die wir nicht spielen, aber das hat mich immer gefreut, denn dann haben wir das vorherige Spiel gewonnen. Alfred war für den Gewinner-Strahl verantwortlich, ich für den Verlierer-Strahl. Kurz gesagt: Wir versuchen einfach mit dem ganzen Trainerteam, Alfred so gut es geht zu unterstützen.

Ist man während so einer WM eigentlich rund um die Uhr im Einsatz? 

Die vier Wochen sind natürlich hochintensiv, aber ich bin ja jung und sportlich (lacht). Ich bin ohnehin ein Nachtmensch, ich arbeite viel nachts. Wenn wir spät spielen, schneide ich danach. Nach dem Spiel gegen Norwegen, das um 20:30 Uhr begann, war das zum Beispiel so – ich habe bis 2:30 Uhr geschnitten und um um sechs Uhr morgens wieder angefangen, weil der Flieger früh ging. Wichtig ist, dass man auch mit wenig Schlaf hohe Qualität liefert. Nach so einem Turnier müssen wir dann zwar die Analysen durchführen, aber haben auch Phasen, in denen wir Urlaub machen können.

Die Spieler haben von der guten Stimmung in der Mannschaft geschwärmt. Wie hast du die Stimmung mit deinem Blick auf das Team erlebt? 

Alfred und ich hatten uns im Dezember zusammengesetzt und überlegt, wie wir gegen die Topteams konkurrenzfähig sein wollen. Wenn wir gegen Mannschaften spielen, die über herausragende Einzelkönner verfügen, war klar, dass wir auf den Ebenen Zusammenhalt, Stimmung und Atmosphäre auf allerhöchstem Niveau performen müssen. Daher habe wir uns überlegt, wie wir das machen können; die Gestaltung der Vorbereitung, des Trainings und der Teambuilding-Maßnahmen trägt dazu bei, eine positive Stimmung zu erzeugen. Dabei war es vielleicht auch hilfreich, dass ich als gebürtiger Rheinländer meinen Humor im Vergleich zu einem Isländer etwas extrovertierter austrage (schmunzelt).

Kurz gesagt: Ich kann nur bestätigen, dass wir in der Mannschaft eine herausragende Stimmung gehabt haben – dazu gehörten aber nicht nur die Spieler, sondern auch die Trainer, der ganze Staff und die Leute im Hintergrund. Wir sind eine große Gemeinschaft, die auch in so einer langen Phase, wo Lagerkoller aufkommen könnte, sehr harmonisch und sehr kollegial miteinander umgegangen ist.

Werfen wir ein Blick auf die kommenden Monate: Was machst du als Co-Trainer der Nationalmannschaft, wenn kein Großturnier ist? 

Es ist jetzt erst einmal Nachwuchsleistungsportsichtung. Ich bin zwar kein Jugend-Bundestrainer mehr, aber als hauptamtlicher Trainer beim DHB will ich natürlich gucken, was an Nachwuchstalenten nachkommt. Daher bin ich bei den verschiedenen Sichtungsmaßnahmen dabei.

Ansonsten gehe ich natürlich in die Hallen, um die Spiele der Jungs zu beobachten und zu analysieren. Der Prozess, direkt mit der Mannschaft zu arbeiten, ist als Nationaltrainer zeitlich beschränkt, daher arbeiten wir viel indirekt, über Gespräche mit den Spielern, Beobachtung der Wettkämpfe und über den Kontakt mit den Heimtrainern. Das ist natürlich eine Kernaufgabe.

Außerdem steht natürlich auch die WM-Analyse an. Wir wollen nach so einem Turnier die sportlichen Seiten beleuchten und gucken, wie alles gelaufen ist. Wir arbeiten auf, ob es Verbesserungspotenziale in der Organisation gibt, in der Ernährung, der Medizin und bei Medien und Kommunikation gibt. Außerdem bin ich zusätzlich in der Trainerausbildung aktiv, es kommen Workshops und A-Trainer-Ausbildung auf uns zu.

Geht es bei der sportlichen WM-Analyse nur um euren Auftritt oder auch die internationalen Trends? 

Es geht definitiv um beides. Da der DHB ein vom DOSB geförderter Verband ist, müssen wir eine Weltstandsanalyse durchführen. In dem Rahmen schauen wir uns an, wie die anderen Mannschaften spielen und welche individuellen sowie mannschaftstaktischen Entwicklungen es gibt. Das ist für uns eine super Gelegenheit, weil es viele Spiele auch von außer-europäischen Mannschaften zu sehen gibt.

Wir schauen also nicht nur, wie die Schweden, Dänen und Isländer spielen, sondern gucken zum Beispiel auch auf die Entwicklung von Mannschaften wie Ägypten. Was spielen sie? Ist das ein One-Hit-Wonder oder aus der Jugend aufgebaut? Bei Ägypten beispielsweise, das habe ich selbst erlebt, ist das lang geplant und aufgebaut (2019 verlor die deutsche Jugend-Nationalmannschaft unter Erik Wudtke das Finale der U19-WM gegen die ägyptische Auswahl, Anm.). Und wenn man die anderen Länder analysiert hat, gruppiert man seine eigene Leistung ein.

Zum Abschluss ein Blick auf das viel gepriesene „Zugpferd Nationalmannschaft“. Wie schätzt du die Wirkung auf Handball-Deutschland ein? 

Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland sehr gut einschätzen können, ob die Mannschaft aus ihren Möglichkeiten viel herausgeholt hat oder nicht. Ob ein Spieler nach einem Spiel in den Spiegel schauen und sich sagen kann: Ich habe alles gegeben, was möglich ist. Da herrscht ein feines Gespür und was wir als Team hier wahrgenommen haben, war sehr viel Respekt und Anerkennung für die Leistung aus Deutschland. Das müssen wir mitnehmen und als Wind unter den Flügeln nutzen, um davon auch zukünftig zu profitieren.

Und wenn man auf die Mannschaft als Zugpferd für den gesamten Handball in Deutschland guckt: Da haben wir in meinen Augen das Bestmögliche mit dem Auftreten getan. Am Ende ist Erfolg natürlich das, was am besten funktioniert und in diesem Punkt fehlt uns noch ein wenig. Da sind wir noch nicht beim Maximum angekommen, das haben wir uns für die Heim-EM aufgespart (lacht).